Retraumatisierungen bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten – Judith Henrike Pieper

Inwiefern finden in der Inobhutnahme und beim Clearingverfahren Retraumatisierungen bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten statt und wie ließe sich dies verhindern? 

  1. Einleitung, Interessensformulierung

Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist die Frage, inwiefern in der Inobhutnahme und beim Clearingverfahren Retraumatisierungen bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten [ref] Im Folgenden: umG. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, die geläufige Abkürzung umF (unbegleite minderjährige Flüchtlinge) zu benutzen und eine eigene gebildet. Diese Entscheidung beruht unter anderem auf diesem Zitat: „Es gibt noch einen anderen Grund dafür, dass niemand gerne “Flüchtling” genannt wird. Das Wort reduziert den Menschen auf seine Flucht: Ob es sich bei der geflüchteten Person um eine Ärztin handelt oder einen Maurer, ob sie Kinder hat oder von einer Karriere als Banker träumt, das alles interessiert uns nicht. Seit längerem schon sind Begriffe im Umlauf, die hier Abhilfe schaffen: “Geflüchtete” oder “Refugees”.“ http://www.deutschlandradiokultur.de/gefluechtete-versus-asylanten-begriffe-druecken.1005.de.html?dram%3Aarticle_id=330623, aufgerufen am 15.09.2015 [/ref] stattfinden und wie sich dies verhindern ließe.

Als primäre Quellen dienen Publikationen zum Thema, „Kinder auf der Flucht. Minderjährige Flüchtlinge in Deutschland“ [ref] Angenendt, Steffen (Hrsg.): Kinder auf der Flucht. Minderjährige Flüchtlinge in Deutschland, Opladen, Leske + Budrich Verlag, 2000 (Im Folgenden: Kinder auf der Flucht) [/ref] von Steffen Angenendt, „Kinderflüchtlinge. Theoretische Grundlagen und berufliches Handeln“ [ref] Dieckhoff, Petra (Hrsg.): Kinderflüchtlinge. Theoretische Grundlagen und berufliches Handeln, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010 (Im Folgenden: Kinderflüchtlinge) [/ref] von Petra Dieckhoff und „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe“ [ref] Hargasser, Brigitte: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge [E-Book]. Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe, Frankfurt am Main, Brandes & Apsel, 1. Auflage 2015 (E-Book) http://reader.eblib.com.proxy.ub.uni-frankfurt.de/(S(gkzz5sqevrkuhppdh034flsk))/Reader.aspx?p=1936159&o=2030&u=OC7fZQQLqtETUJas3hj9jw%3d%3d&t=1441716493&h=A86A7AD32716FCDB387083E969826DE0EC352B19&s=38010976&ut=6936&pg=1&r=img&c=-1&pat=n&cms=-1&sd=2#, aufgerufen am 8.9.2015 (Im Folgenden: UmF) [/ref] von Brigitte Hargasser sowie Informationen der Website des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) [ref]  www.bamf.de, zuletzt aufgerufen am 25.09.2015 [/ref] .

Außerdem gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine große mediale Aufmerksamkeit zu den Themen Flucht und Asyl, so dass auch ein Zeitungsartikel in die Analyse mit einfließt, um den gegenwärtigen Diskurs zu verdeutlichen. Die Motivation, das Blockseminar zur pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in der Kinder- und Jugendhilfe zu besuchen, über die Inobhutnahme und das Clearingverfahren ein Referat zu halten und zu diesem eine Ausarbeitung zu schreiben, begründet sich einerseits in meiner Teilhabe an der Hochschulgruppe „academic experience Worldwide“ zur besseren Integration von asylsuchenden Akademiker*innen, in der Trennung von der Familie schon häufiger zur Sprache gekommen ist, und andererseits in der gegenwärtigen Relevanz des Themas Asyl aufgrund der gestiegenen Zahlen der Geflüchteten, die in Europa und Deutschland momentan täglich ankommen.

Global verantwortete Kriege und Konflikte treffen nicht nur unschuldige Zivilist*innen, sondern auch die Gruppe der Menschheit, die vielleicht die verletzlichste darunter ist: Kinder und Jugendliche [ref] Brigitte Hargasser führt Kritikpunkte dieses Konzepts der Vulnerabilität von umG an: „Das u.a. auch vom UNHCR vertretene Konzept der Vulnerabilität von Flüchtlingskindern und insbesondere unbegleiteten Minderjährigen (vgl. Wallin & Ahlström, 2005), ist nicht unumstritten. Die Kategorisierung als >>vulnerabel<< könnte kontraproduktive Effekte auslösen (vgl. Clark, 2007, 284). Zum einen werde der Fokus auf Symptome anstatt auf Ursachen und Kontexte gelenkt, so dass Veränderungsmöglichkeiten vernachlässigt werden, zum anderen ermutige es Flüchtlinge, sich selbst als Opfer zu definieren, um Zugang zu Versorgungsleistungen, die ihnen ansonsten vorenthalten blieben, zu erhalten, mit der Folge, ihre eigenen Copingstrategien, sozialen Netzwerke und Unterstützungsstrukturen zu vernachlässigen (vgl. ebd., S. 292f.)“ Hargasser, Brigitte: UmF,  S. 97 [/ref] . Ihr Lebensumfeld wird zerstört und deshalb müssen sie fliehen, manchmal mit ihren Familien, manchmal, wenn es sich die Familie nicht leisten kann, dass alle fliehen, oder wenn Verwandte bereits gegangen oder tot sind, alleine. Brigitte Hargasser fasst es folgendermaßen zusammen:

„Unbegleitete Flüchtlingskinder sind getrennt von ihren Eltern, weil diese entweder vermisst, inhaftiert oder tot sind, ihre Kinder verlassen haben, auf der Flucht von ihnen getrennt wurden oder weil sie beschlossen haben, ihr Kind in Sicherheit zu schicken.“ [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 86 [/ref]

Da eine oder mehrere dieser Situationen auf enorm viele Kinder zutreffen, sind mehr als die Hälfte aller Geflüchteten weltweit Kinder [ref] Ausstellung „Asyl ist Menschenrecht“ von Pro Asyl.  Die Ausstellung und ihr Zeitungskatalog bieten „Informationen zum Thema Flucht, Flüchtlinge und Asyl“ (Unterschrift des Ausstellungskataloges). Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.), Frankfurt am Main, Dezember 2014, Nach der Issu-Online-Ausgabe S. 5, die Druckversion hat keine Seitenzählung, http://www.proasyl.de/de/home/ausstellung-asyl-ist-menschenrecht/?cHash=988672211081e5b81143ceebddca5682&no_cache=1&sword_list[0]=asyl&sword_list[1]=ist&sword_list[2]=menschenrecht, aufgerufen am 4.8.2015. PRO ASYL betreibt Öffentlichkeitsarbeit, Recherchen und Unterstützung von Initiativgruppen, begleitet Flüchtlinge im Asylverfahren und bietet Einzelfallhilfe. Außerdem dokumentiert der Verein Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen. Siehe http://www.proasyl.de/de/ueber-uns/, zuletzt aufgerufen am 13.08.2015 [/ref] . Hieraus ergibt sich eine gewaltige Aufgabe für die Erziehungswissenschaft, denn diese Kinder haben traumatisierende Erfahrungen, Trennung von der Familie, Sprachbarrieren und „Kulturschocks“ in so frühem Alter erlebt und müssen mit dieser schweren Lebenssituation fertig werden.

2.1 Definition Inobhutnahme

Die Zuständigkeit für die Inobhutnahme liegt beim Jugendamt. Für eine Inobhutnahme muss eine angenommene Minderjährigkeit nach deutschem Recht im Rahmen des „Möglichen“ liegen. Die Inobhutnahme kann nur vom Jugendamt ausgesprochen werden und weitere Aufgaben können an Träger der freien Jugendhilfe abgegeben werden. Der rechtliche Rahmen für die Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten findet sich im StGB VIII § 42:

Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen

(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn

– das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet, oder

– eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und

– die Personenberechtigten nicht widersprechen oder

– eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder

– ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. [ref] Hervorhebungen von mir [/ref]

Standards der Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sollten sein: ein Erstgespräch durch das Jugendamt, die Prüfung der Inobhutnahmevoraussetzung, eine Alterseinschätzung [ref] Siehe Anlage Dokument 1 [/ref] , die Klärung der Möglichkeit einer Familienzusammenführung, die Unterbringung im Rahmen der Inobhutnahme, materielle und medizinische Versorgung und die Ernennung einer Vormundschaft.

2.2 Erstgespräch durch das Jugendamt

Im Erstgespräch durch das Jugendamt sollen die „Fakten“ ermittelt werden und dem* oder der* unbegleiteten minderjährigen Geflüchtetem* oder Geflüchteten* das weitere Verfahren erläutert werden. Dabei herrscht das Vieraugenprinzip: zwei sozialpädagogische Fachkräfte des Jugendamts führen das Gespräch, gegebenenfalls unter Einbezug eines Vertreters* oder  einer Vertreterin* des Fachdienstes Amtsvormundschaft mit der Hilfe eines* oder einer* dem* oder der* unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten gegenüber neutral eingestellten Sprachmittler*in oder Dolmetscher*in. [ref] Siehe Anlage Dokument 2 [/ref]

2.3 Familienzusammenführung

Die Familienzusammenführung sollte oberste Priorität haben – solange dies im Interesse der* oder des* unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten ist. Etwa im Falle einer Zwangsverheiratung wäre dies nicht der Fall. Mögliche Fallkonstellationen, die in einer Familienzusammenführung münden können, sind: Familienangehörige halten sich eventuell im Inland oder einem anderen EU-Staat auf, die Einreise erfolgte in Begleitung von Verwandten (wobei hier die Beschreibung „unbegleitet“ aus der Bezeichnung des* oder der* Geflüchteten wegfallen würde) oder die Einreise erfolgte mit Ehepartner*in (hierbei gilt eine Eheschließung nach religiösem, traditionellem oder Heimatrecht).

2.4 Alterseinschätzung 

Das Alter der* oder des* unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten ist von zentraler Bedeutung für die Zuständigkeit des Jugendamtes. Es entscheidet über den Anspruch auf Inobhutnahme und hat verfahrensrechtliche Konsequenzen. Es kommt vor, dass Geflüchtete aus verschiedenen Motiven angeben, jünger zu sein. Gründe für eine eventuell falsche Altersangabe können etwa die Hoffnung auf Unterstützung durch einen Vormund, die gegenüber einer Sammelunterkunft bessere Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung, der Wunsch nach dem Besuch einer Schule und die Hoffnung auf aufenthaltsrechtliche und asylverfahrenstechnische Vorteile sein. Allerdings ziehen all diese vermeintlich positiven Aspekte im Falle Erwachsener auch Nachteile mit sich, wodurch eine falsche Altersangabe meist nicht vorteilhaft ist.

Daraus ergeben sich auch die Gründe für die Alterseinschätzung: Das Unterbringen von Erwachsenen in Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen kann pädagogisch problematisch sein. Grund dafür ist die Reife: wenn Mitbewohner*innen und Mitschüler*innen wesentlich jünger sind, kann dies zu Konflikten führen, etwa wenn jüngere Mitschüler*innen sich noch nicht so lange konzentrieren können und damit den* oder die* Geflüchtete*n im Lernprozess stören. Auch eine angestrebte Vormundschaft kann, wenn sie auch in der ersten Zeit erwünscht wurde, schnell zur Belastung für eigentlich mündige Erwachsene werden, da sie die im Leben bereits erreichte Autonomie untergräbt und das Gefühl von Bevormundung zunehmend als unangenehm erlebt werden kann, zumal die Situation der Vormünder momentan keine eingehende Beschäftigung mit ihren Mündeln zulässt, worauf ich im nächsten Kapitel genauer eingehen werde.

Zur Methodik ist zu sagen, dass die Alterseinschätzung durch Inaugenscheinnahme vorgenommen wird. Früher gab es auch medizinische Untersuchungen wie die Handwurzeluntersuchung (bei der von einer Abweichung von ein bis zwei Jahren ausgegangen werden kann) oder Röntgenuntersuchungen des Schlüsselbeins, was verboten ist, seit Ärzte sich weigerten, diese durchzuführen, da Röntgenuntersuchungen nur vorgenommen werden dürfen, wenn es einen medizinischen Bedarf dafür gibt. Steffen Angenendt erklärt das Alterseinschätzungsverfahren und fasst die wichtigsten Kritikpunkte daran zusammen:

Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen entscheidet ihr Alter darüber, in welchen Einrichtungen die Erstaufnahme erfolgt. In Fällen, in denen den Behörden die Altersangaben der Kinder und Jugendlichen nicht glaubhaft erscheinen, nehmen sie Altersschätzungen vor. Bis vor einigen Jahren wurden dazu auch gegen den Willen der Minderjährigen medizinische Untersuchungen wie zahnärztliche Untersuchungen oder Röntgenaufnahmen der Handwurzelknochen angewandt. Diese Untersuchungen wurden aber von vielen Ärzten und Juristen aus ethischen, rechtlichen und sachlichen Gründen abgelehnt, vor allem wegen des Eingriff [sic] in die Unversehrtheit der Person und der Ungenauigkeit der Untersuchungsmethoden. Zudem hat der Europäische Rat in einer Entschließung vom 11. Juni 1997 bestimmt, daß medizinische Untersuchungen zur Altersbestimmung nur mit Zustimmung des zu Untersuchenden durchgeführt werden dürfen. Seit einiger Zeit greifen die Behörden in Zweifelsfällen daher zu nicht-medizinischen Verfahren zur Altersfeststellung, hierbei vor allem zur sogenannten Inaugenscheinnahme. Diese besteht darin, daß ein Mitarbeiter des Jugendamts oder der Ausländerbehörde den Minderjährigen vorführen läßt und dabei – gestützt allein auf seine Erfahrung – das Alter des Minderjährigen schätzt. An diesem Verfahren wird vor allem die Willkür der Altersfeststellung kritisiert. Grundsätzlich problematisch ist auch, daß die Beweislast für den Nachweis des Alters bei den Minderjährigen liegt: Sie haben den Behörden nachzuweisen, daß das von ihnen angegebene Alter zutrifft, und nicht umgekehrt. Darüber hinaus erhalten die Kinder und Jugendlichen in der Regel keinen rechtsmittelfähigen Bescheid über die Altersfeststellung, und haben daher Schwierigkeiten, sich gegen eine falsche Alterseinschätzung zu wehren. [ref] Angenendt, Steffen: Kinder auf der Flucht, S. 61 [/ref]

Weitere Kritikpunkte am Alterseinschätzungsverfahren sind die uneinheitlichen Verfahren in Deutschland, indem in verschiedenen Bundesländern unterschiedlich damit umgegangen wird, außerdem kämen, wenn Ärzte hinzugezogen würden, nur bestimmte in Frage, diese Untersuchungen würden von jungen Menschen aus anderen Kulturkreisen als massiver Eingriff erlebt, zudem die Pubertätsschamhaftigkeit hinzukomme und oft seien auch keine Dolmetscher*innen vorhanden, die das Verfahren erklären könnten.

2.5 Vormundschaft

In Deutschland gibt es drei Formen von Vormundschaft: die Einzelvormundschaft, die im Falle von umG in der gegenwärtigen Situation, wenn sie von fähigen Vormündern übernommen wird, sicher die beste ist, außerdem die Vereinsvormundschaft, die ihre Vorteile darin haben könnte, dass die Verantwortung für das Mündel sich auf mehrere Menschen verteilen kann, und die Amtsvormundschaft, zu der zu sagen ist, dass im gegenwärtigen Zeitraum die Amtsvormünder zu viele Fälle gleichzeitig zu bearbeiten haben, als dass sie ihrer Verantwortung zur Genüge nachkommen könnten. So sprachen etwa Dr. des. Mirja Keller und Dipl. Päd. Sarah Friedrich auf dem Landespsycholog*innentag 2015 in Frankfurt an, dass die aktuelle Problematik darin bestünde, dass Vormünder in Frankfurt bis zu 90 umG zu „betreuen“ hätten. Dadurch käme es zu Überlastungen und Standards könnten nicht eingehalten werden. [ref] Dr. des. Mirja Keller und Dipl. Päd. Sarah Friedrich hielten auf dem „Landespsychologen-/innentag“ der Landesgruppe Hessen des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen unter dem Motto „Willkommen!? Wie gelingt Integration des Fremden?“ am 26. September 2015 auf dem Campus Bockenheim der Goethe-Universität Frankfurt am Main einen Vortrag mit dem Titel „Traumabewältigung, Kommunikation und Integration.  Jugendliche mit Flucht- und Migrationsgeschichte im Rahmen von Therapie, Psychosozialer Beratung und Jugendhilfe“. Die Folien des Vortrags haben sie unter http://www.bdp-hessen.de/backstage2/hes/documentpool/2015/lpt2015kellerfriedrich.pdf zur Verfügung gestellt. [/ref]

Die Aufgaben der Vormundschaft bestehen in der Personensorge, der Vermögenssorge und dem Betreiben des ausländer- und asylrechtlichen Verfahrens. Diese Aufgaben sollen nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt werden. [ref] Vgl. Angenendt, Steffen: „Das Ziel der Inobhutnahme soll zunächst eine Beratung durch die Mitarbeiter der Einrichtung sein, in der die Kinder und Jugendlichen untergebracht werden, und es sollen zusätzliche Befragungen über die familiäre Situation, die Fluchtmotive, den Ausbildungsstand und die gesundheitliche und psychische Situation des Minderjährigen stattfinden. Dann stellt das Jugendamt umgehend beim örtlich zuständigen Vormundschaftsgericht einen Antrag auf Bestellung eines Vormunds beziehungsweise eines Rechtspflegers, die unter anderem für die Stellung eines Asylantrags zuständig sind. Auf der Grundlage der Angaben des Minderjährigen wird außerdem sein Hilfebedarf genauer bestimmt und ein sogenannter Hilfeplan erstellt. Das Jugendamt beantragt zudem die Gewährung von Jugendhilfe beziehungsweise von Hilfe zur Erziehung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und leitet ein Verfahren zur Kostenerstattung durch die sogenannten überörtlichen Kostenträger ein. Schließlich sucht das Jugendamt, oft unterstützt durch Mitarbeiter der Erstaufnahmeeinrichtung, eine Einrichtung, die den Minderjährigen im Anschluß aufnehmen kann und ihm die nötige Hilfe bieten kann. Ist eine solche gefunden, beantragt das Jugendamt die Entlassung aus der Vormundschaft und die Einrichtung einer Vormundschaft am Zuweisungsort. Mit der Weiterleitung des Minderjährigen an eine solche Folgeunterbringungseinrichtung ist die Erstaufnahme beendet.“ Kinder auf der Flucht, S. 63 [/ref]

3. Definition Clearingverfahren

Während des Clearingverfahrens werden die Kinder und Jugendlichen in speziellen Clearinghäusern, Erstaufnahmestellen oder bei freien Trägern der Jugendhilfe untergebracht. Steffen Angenendt geht auf die verschiedenen Bezeichnungen in den Bundesländern ein:

In Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt werden die für Minderjährige geschaffenen Einrichtungen offiziell als Clearing-Stellen bezeichnet, in anderen Ländern hingegen als Jugendhilfeeinrichtung (Brandenburg), als Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende (Rheinland-Pfalz) oder als Erstaufnahmeeinrichtung (Thüringen). [ref] Angenendt, Steffen: Kinder auf der Flucht, S. 62 [/ref]

Seit Erscheinen seines Buches im Jahr 2000 haben sich die Begriffe nach meiner Beobachtung verändert, so wird der Begriff „Erstaufnahmeeinrichtung“ mittlerweile für Sammelunterkünfte für Geflüchtete egal welchen Alters bundesweit gebraucht [ref] Eine nähere Untersuchung der Fragestellung, wie die Begriffe sich verändert haben wäre interessant, würde den Rahmen dieser Arbeit aber sprengen. [/ref] , da diese Arbeit aber in einem hessischen Seminarkontext entsteht, werde ich beim Begriff der Clearing-Stelle bleiben.

Die Inhalte des Clearingverfahrens sind, die Gegebenheiten zu klären, mit den Jugendlichen und Kindern Perspektiven und Ziele für die weitere Planung zu ermitteln und den Jugendhilfebedarf zu klären: inwiefern wird pädagogische Hilfe gebraucht, inwiefern psychologische/therapeutische Hilfe? Wie sieht die schulische Situation aus, wie der Wunsch nach Beschulung?

Außerdem muss die gesetzliche Vertretung geklärt werden. Ein weiterer Aspekt ist das aufenthaltsrechtliche Clearing, dessen Inhalt ist, zu klären, welcher aufenthaltsrechtliche Status angestrebt wird. Dazu zählt die Frage, ob es Alternativen zur staatlichen Inobhutnahme gibt, etwa, ob es Familienangehörige gibt, bei denen das Kind oder der* bzw. die* Jugendliche unterkommen kann und wenn ja, ob diese geeignet sind, um dieser Aufgabe nachkommen zu können. In Härtefällen muss eventuell auf das Bleiberecht aus humanitären Gründen gepocht werden. Auch das Clearingverfahren krankt an einigen Problemen, bemängelt werden fehlende Ressourcen (d.h. zu wenige Mitarbeitende und finanzielle Möglichkeiten), oft würden Bedarfe der Jugendlichen nicht erkannt, die aufenthaltsrechtliche Unsicherheit erschwere das Erarbeiten und Umsetzen von Zielen und der Ausländerbehörde wird fehlendes Mitwirken vorgeworfen.

4.1 Definition Trauma und Retraumatisierung

Ein mit Flucht und Zwangsmigration häufig in Zusammenhang gebrachter Begriff ist >>Trauma<<, ob als alltagssprachliche pauschale Benennung von erfahrenem Leiden oder als Kategorie der klinischen Psychologie. Er wird in der Psychiatrie sowohl zur Beschreibung des auslösenden Ereignisses als auch zur Schilderung der psychischen Folgen benutzt, was eine Begriffsbestimmung schwierig macht. […] So definiert das am medizinischen Ansatz ausgerichtete Diagnosemanual International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems ICD-10 als >>ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. (Dilling et al., 2011, 207) [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 23 [/ref]

Diese Definition von Brigitte Hargasser schien mir am geeignetsten, da sie die ICD-10 miteinbezieht, eine international anerkannte Klassifizierung von Krankheiten. Da die Begriffsbestimmung so schwierig ist, bin ich der Meinung, dass der Begriff „Trauma“ mit einiger Vorsicht behandelt werden sollte und darauf geachtet werden sollte, dass er so wenig wie möglich alltagssprachlich genutzt wird, sondern die psychiatrische Bedeutung bei seiner Verwendung mitgedacht wird. Da der Begriff sowohl zur Beschreibung des auslösenden Ereignisses als auch zur Beschreibung der psychischen Folgen genutzt wird, werde ich in dieser Arbeit von auslösenden Ereignissen als „Traumata“ reden, von den psychischen Folgen in Abgrenzung davon als „Symptomen von Traumata“ beziehungsweise von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), denn wie durch das „Post-“ markiert wird, handelt es sich hier um eine „Störung“, die erst nach dem erfolgten Trauma auftritt, es gibt aber auch Anpassungsstörungen oder akute Belastungsreaktionen, die in Folge von Traumata auftreten können. ref] http://www.icd-code.de/icd/code/F43.1.html, aufgerufen am 17.10.2015 [/ref]

Anpassungsstörung und akute Belastungsreaktionen sind im Gegensatz zur PTBS vorübergehend, eine PTBS tritt meist erst längere Zeit nach dem Trauma auf. Andererseits gibt es auch Menschen, die Traumata erleben und keine Folgen daraus entwickeln. Erfahrungen, die diese Symptome von Traumata „triggern“ oder verschlimmern werde ich als „Retraumatisierung“ bezeichnen. Eine weitere Definition von Trauma lieferte Dipl. Päd. Marie Rössel-Čunović, ebenfalls auf dem „Landespsychologen-/innentag“ der Landesgruppe Hessen des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen unter dem Motto „Willkommen!? Wie gelingt Integration des Fremden?“ am 26. September 2015 in Frankfurt am Main:

Vitales Erleben von Diskrepanz „…zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer und Riedesser, 1999) [ref] Dipl. Päd. Marie Rössel-Čunović hielt auf dem oben schon näher beschriebenen „Landespsychologen-/innentag“ 2015 einen Vortrag zum Thema „Kultursensible psychosoziale Beratung und Psychotherapie mit Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten“ und stellte die Folien auf http://www.bdp-hessen.de/backstage2/hes/documentpool/2015/traumafolgenbeifluechtlingenhessptag.pdf (zuletzt aufgerufen am 15.10.2015) zur Verfügung. [/ref]

Diese zusätzliche Definition halte ich für die weitere Analyse für fruchtbar, da sie nicht nur defizitorientiert ist, sondern auch auf die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten eingeht, die Menschen besitzen und die in der pädagogischen und psychotherapeutischen Arbeit mit umG gestärkt werden können.

4.2 Mögliche Ursachen von Traumata bei umG

Alle Menschen können in jeder Lebenslage prinzipiell Traumata erleiden, bei umG gilt es aber, den Fokus auf bestimmte mögliche Ursachen zu lenken, die viele von ihnen betreffen, ohne dabei das jeweils individuelle Leid und die individuellen Coping-Strategien aus dem Blick zu verlieren. Mögliche Ursachen von Traumata bei umG sind etwa Folter, Verfolgung, Gewalterfahrung, Hunger, sexualisierte Gewalt, Kriegserfahrungen, Terror, lebensbedrohliche körperliche Erkrankungen und vor allem die meist als sehr plötzlich erlebte Trennung von Familie und Freund*innen. Auch Brigitte Hargasser verweist auf Hodes und seine Kolleg*innen, welche die Relevanz des Bewusstseins über die möglichen Ursachen von Traumata bei umG betonen:

Sie [Hodes und seine Kolleg*innen, Anm. d. Verfasserin] unterstreichen, wie wichtig es ist, sich in der Arbeit mit UMF dem hohen Ausmaß an erlebten Kriegstraumata, inklusive körperlicher Verletzungen und sexueller Gewalt, und dem Risiko einer Posttraumatischen Belastungsstörung in dieser Gruppe bewusst zu sein. [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 98 [/ref]

Eine Studie zu den tatsächlichen potentiell traumatisierenden Erlebnissen von umG noch in den Herkunftsländern hat Brigitte Hargasser veröffentlicht. Von den vielen befragten umG hatte eine erschreckend hohe Anzahl einige oder mehrere der potentiell traumatisierenden Erlebnisse hinter sich, die auch als Fluchtursachen benannt werden:

Die befragten unbegleiteten asylsuchenden Kinder dieser Forschungsarbeit berichteten folgende potentiell traumatisierenden Erlebnisse in ihren Herkunftsländern: Gewalt (n=86), sexualisierte Gewalt/Vergewaltigungen (n=32), physische Gewalt (n=15), Zeuge von Gewalt gegen Familienmitglieder (n=7), Zeuge von Gewalt gegen Fremde (n=5), Beobachtung von Tod oder Hinrichtung von Familienmitgliedern (n=13) oder von öffentlichen Hinrichtungen (n=3), Todesdrohungen (n=8), Erfahrung von erniedrigender Behandlung (n=6), Gefängnisaufenthalt oder Festnahme (n=13), Leben im Versteck (n=16) und Abtreibung (n=3) (vgl. Thomas et al., 2004, 118). [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 89 [/ref]

Wichtig an dieser Aufzählung ist, dass auch die Beobachtung von Gewalt an anderen, Familienmitgliedern oder Fremden potentiell traumatisierend sein kann. Auch die Bedrohung von Bezugspersonen oder Freund*innen kann für Kinder und Jugendliche traumatisierend wirken.

4.4 Typische Symptome von Traumata und PTBS

„Typische Symptome einer PTBS sind Wiedererleben eines Traumas in Form von Intrusionen, Nachhallerinnerungen (Flashbacks) und Alpträumen, Vermeidung von mit dem Trauma assoziierten Situationen, Numbing (Dämpfung der eigenen Gefühle) und Hyperarousal (eine anhaltende Erhöhung des Erregungsniveaus [sic]) (vgl. Maercker, 2009, 18f.)“ [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 93 [/ref]

Zu den Symptomen gehören außerdem auch, nicht schlafen zu können (was auch durch Hyperarousal zu erklären wäre bzw. durch die Angst vor Alpträumen), Dissoziationen, Abspaltung und dass das Trauma in Bruchstücken erinnert und wahrgenommen wird, als etwas Fremdes und Unkontrollierbares eingeschätzt wird.

5. Retraumatisierungen in Clearingverfahren und Inobhutnahme und wie diese eventuell teilweise zu vermeiden wären.

Zu beachten im Clearingverfahren und in der Inobutnahme ist immer der Zustand der Kinder und Jugendlichen nach der langen Flucht. Hierbei steht die (wieder-)erlangte Freiheit teilweise im Gegensatz zur Jugendhilfe, denn diese meist gutgemeinte „Hilfe“ kann nun als Einschränkung erlebt werden, wie Dr. des. Mirja Keller und Dipl. Päd. Sarah Friedrich betonen. [ref] Siehe http://www.bdp-hessen.de/backstage2/hes/documentpool/2015/lpt2015kellerfriedrich.pdf, S. 10 [/ref] Zu einer ähnlichen Einschätzung scheint Brigitte Hargasser zu kommen, die folgendes berichtet:

Insgesamt erlebte Tarik [ref] Ein ehemaliger umG [/ref] das Leben in den Wohngruppen als anstrengend und konfliktreich. Er vermisste eine altersgemäße und weniger rigide Handhabung der Regeln, v.a. der Ausgeh- und Essenszeiten (vgl. ebd., 82; 86-88), und wünschte sich mehr Entscheidungsspielräume und Rückzugsmöglichkeiten (vgl. ebd., 86). >>[W]enn man da nicht anwesend war, da hat man nichts zum Essen bekommen, das ist ne Strafe [gesprochen: Straffe, militärisch]. Das ist wie im, tut mir leid, zu Hitler-Zeiten. Das gehört sich nicht. Wir sind Menschen und Menschen machen Fehler. Wie die Engländer sagen >Who is perfect?< Ja, da hat man, wenn man fünf Minuten zu spät gekommen ist, hat man kein Essen bekommen. Da musste man mit hungrigem Bauch schlafen und das ist wie im Knast.<< (Ebd., 88) [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 151 [/ref]

Es sei darum wichtig, nicht zu rigide mit den Kindern und Jugendlichen umzugehen. In ihrem Buch geht Brigitte Hargasser auf die Risikofaktoren ein, mit denen umG zu kämpfen haben:

Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von psychischen Störungen bei Kindern erhöhen, sind […] aber auch ein niedriger Grad an sozialer Unterstützung und postmigratorischer Stress wie z.B. das Asylverfahren an sich, ein ungeklärter Aufenthaltsstatus, finanzielle Härten, inadäquate Unterbringung, soziale Isolation, Sprachprobleme, Rassismus oder Anpassungsschwierigkeiten an die neue Kultur (vgl. Ehntholt & Yule, 2206, 1201; Hodes, 2000, 58). [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 99 [/ref]

Um dagegen arbeiten zu können, wäre es also wichtig, die soziale Isolation zu brechen, etwa indem versucht wird, die Kinder in Freizeitbeschäftigungen einzubinden, in denen sie nicht nur mit anderen umG zusammen sind, Sport- und Kulturvereine können dazu einen wichtigen Beitrag leisten, wenn sie nicht zu teuer sind. Dabei können auch spielerisch Sprachbarrieren beseitigt werden, Sprachkurse sind ebenfalls von zentraler Bedeutung. Gegenüber den Risikofaktoren, die es zu verhindern gilt, gibt es aber auch Schutzfaktoren, die gestärkt werden können:

Zu den Schutzfaktoren, welche die schädliche Wirkung eines Risikofaktors mindern oder beseitigen (vgl. Bengel et al., 2009a, 23), zählen eine gewisse persönliche Disposition (positives Temperament, positives Selbstwertgefühl, die Fähigkeit, auf neue Situationen zu reagieren), starke Glaubenssysteme und das Erleben von Sinn, die Rolle der Familie (deren Zusammenhalt, Anpassungsfähigkeit) und ein großes Ausmaß an sozialer Unterstützung (vgl. Carlson et al., 2012, 262; Ehntholt & Yule, 2006, 1201). Als Puffer gegen die negativen Auswirkungen von traumatischen Ereignissen gelten auch das Verfügen über zahlreiche Copingstrategien, eine wirksame Kontrolle über Traumasymptome, das Gefühl von persönlichem Stolz, Schutz vor Isolation, eine Atmosphäre gesellschaftlicher Offenheit für Vielfalt (vgl. Groark et al., 2011, 423), die Erfahrung von vergangener erfolgreicher Bewältigung schwieriger Situationen oder Krisen und ein hilfreiches Milieu, welches Information, Orientierung, Verarbeitungshilfen, eine wohlwollende Annahme und eine schnelle Wiederherstellung einer Alltagsstruktur bietet, was bei Flüchtlingskindern häufig die Schule ist (vgl. Lanfranchi, 2006b, 5). [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 99 [/ref]

Daraus lassen sich Leitlinien für die Inobhutnahme und die Clearinghäuser bilden: es sollte versucht werden, ein positives Selbstwertgefühl zu bestärken, indem den Kindern und Jugendlichen mit Achtung begegnet wird, und sie sollten dafür gelobt werden, wie sie auf neue Situationen reagieren und, falls sie Angst haben oder äußern, sollte versucht werden, ihnen diese stückweise ein wenig zu nehmen, ohne diese als unberechtigt erscheinen zu lassen. Wenn das Kind oder der* oder die* Jugendliche einem Glauben anhängt, kann versucht werden, es oder ihn* bzw. sie* darin zu unterstützen, diesen auszuleben, etwa durch das gemeinsame Begehen religiöser Feiertage, die Anbindung an eine Gemeinde und das Einhalten religiöser Essens- und Gebetsvorschriften.

Es ist wichtig, dass die Fachkräfte, die in den Einrichtungen arbeiten, ein psychologisches Grundwissen über Copingstrategien [ref]  Zur Verfügung stehende Bewältigungsstrategien, siehe http://www.icd-code.de/icd/code/F43.1.html, aufgerufen am 17.10.2015 [/ref] und Traumakontrolle haben und es wäre wünschenswert, dass sie Fortbildungen zu diesem Thema besuchen können. Von zentraler Bedeutung für umG ist der Schulbesuch, der u.a. eine Alltagsstruktur anbietet und vor Isolation in den Heimen schützt. Daher sollte der Vermittlung eines Schulplatzes eine der obersten Prioritäten eingeräumt werden. Eine große Rolle scheint auch Ablenkung zu spielen. So berichtet Brigitte Hargasser, was „Ramin“, ein ehemaliger umG als positiv erlebt hat:

>>Die haben Karten gebracht, Kicker gespielt, Billard, damit wir nicht an traurige Sachen denken. Und wir hatten Gruppenabend gehabt, und jemand kocht und alle reden zusammen und essen zusammen. Das finde ich echt toll.<< (Ebd., 140) >>[W]ir waren öfter, zwei Wochen einmal Schwimmen und diese Ausflüge und solche Sache. Weil wenn man im Ausflug ist, dann man nicht denkt. Denkt man nur an Ausflug und Spaß und solche Sachen. Ja, deswegen, diese, waren wir in Bowling und […].<< (Ebd., 264). Besonders begeistert erzählt er von einem gemeinsamen Urlaub im Rahmen der Jugendhilfe. Mit zwei Bussen und 20 Jugendlichen seien sie für zwei Wochen nach Norddeutschland gefahren (vgl. ebd., 130). [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 175 [/ref]

Wichtig wäre auch, dass das Alterseinschätzungsverfahren nicht von den Betreuungspersonen der umG geleitet wird, da es so fast nicht möglich ist, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Dies zeigt etwa ein Interview mit einem ehemaligen umG, welches Brigitte Hargasser veröffentlicht hat:

Die Haltung der Fachkräfte empfand er als sehr misstrauisch ihm gegenüber, v.a. wegen der Altersfestsetzung: >>Die sind da und spionieren: Wer ist zu alt, wer ist zu jung, wessen Füße sind zu groß, wessen sind zu klein, wer Bart kriegt, wer nicht Bart kriegt.<< (Ebd., 48) >>Jaa, also ich hab mich die ganze Zeit von denen so auf der Flucht gefunden. Ich hab mir immer aufgepasst, dass die mich nicht […]. also ja, die haben mich nachspioniert.<< (Ebd., 52) [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 150 [/ref]

Hier scheint eine Retraumatisierung erfolgt zu sein, da das Erleben in der Clearingstelle ihn an die Flucht erinnert hat bzw. er die Flucht dadurch wiedererlebt hat. Er schlägt daher vor, die „Alterfestsetzung“ aus dem Aufgabengebiet der pädagogischen und psychologischen Fachkräfte der Jugendhilfe herauszunehmen und diese bereits zu Beginn durch Ärzte vornehmen zu lassen.

Ein schwieriges Thema ist auch der Umgang mit Mediengebrauch. Viele umG sind durch Smartphones und Internetzugang mit ihrer Heimat vernetzt und dadurch auch mit gewaltvollen Bildern konfrontiert. Auch Fernseher gibt es in einigen Einrichtungen, womit auch Tagesthemen eine Rolle spielen können. Diese Bilder können triggern, andererseits ist die Information über die Lage in der Heimat wichtig, gerade wenn es dort noch Familie und/oder Freund*innen gibt. Wie diese Bilder erlebt werden können, berichtet Brigitte Hargasser:

Asim berichtet, dass er von Erinnerungen und jede Nacht mehrmals von Alpträumen gequält wird (vgl. ebd., 245ff): >>Wenn ich höre von denen, dann kann ich die ganze Nacht nicht schlafen. Weil das ist schon Horror, aber ich hab live gesehen. Das ist für mich schwierig. Wenn ich solche Dinge sehe, dann meine Kopf geht kaputt. Ich denke schon an solche Sachen.<< (Ebd., 256) [ref] Hargasser, Brigitte: UmF, S. 173 [/ref]

Wenn beobachtet wird, dass Jugendliche oder Kinder Schwierigkeiten haben, die Bilder aus ihrer Heimat zu verarbeiten, sollte es unbedingt ein Gesprächsangebot dazu geben. Manchmal kann es vielleicht auch helfen, positive Bilder aus der Heimat zu zeigen oder Malangebote zu schaffen, in denen die Realität verarbeitet werden kann, aber auch Wunschbilder entstehen können.

 6. Fazit

Es erscheint mir wichtig, die Gruppe der umG nicht als Spezialgruppe in der Jugendhilfe anzusehen, sondern mit ihnen umzugehen, wie mit allen anderen Kindern und Jugendlichen in Angeboten der Jugendhilfe auch. Dennoch ist ein Wissen um ihre speziellen Bedürfnisse unabdinglich und um mit ihnen arbeiten zu können erscheint eine Sensibilität gegenüber Traumataproblematiken und Strategien, um mit diesen umgehen zu können, als unabdingbar. Glücklicherweise gibt es in der Forschung schon einige Publikationen, an die Fachkräfte sich halten können. In der gegenwärtigen Situation erscheint es durchaus relevant, einen Bewusstseinsprozess über die Lebensbedingungen von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten in der deutschen Bevölkerung und vor allem in der Pädagogik zu schaffen. Ich bin also sehr dankbar über das Angebot des Seminars, welches auch die Bedeutung von Selbstfürsorge angesichts teils harter Arbeitsbedingungen deutlich machte. Da das Unvermögen, mit Traumata umzugehen, welches durch die Lebensbedingungen für umG in Deutschland teils noch verstärkt wird, auch zu Suizidgedanken und –versuchen führen kann, muss die Entscheidung, in diesem wichtigen Berufsfeld zu arbeiten oder nicht, bewusst getroffen werden. Was aber deutlich geworden ist, ist dass die Arbeit mit umG in der Jugendhilfe eine wahnsinnig wichtige ist und Fachkräfte daher so gut wie möglich ausgebildet werden sollten, um diese Arbeit sinnvoll tätigen zu können. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Fachkräfte sich immer wieder für die Rechte dieser Bevölkerungsgruppe einsetzen müssen und für ihre Klient*innen kämpfen müssen, um diese Rechte in Anspruch nehmen zu können.

Literatur- und Onlineverzeichnis

a.) Literaturverzeichnis

Angenendt, Steffen (2000): Kinder auf der Flucht: minderjährige Flüchtlinge in Deutschland; Opladen: Leske + Budirch

Dieckhoff, Petra (2010): Kinderflüchtlinge: Theoretische Grundlagen und berufliches Handeln, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Hargasser, Brigitte (2014): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.

Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.): Asyl ist Menschenrecht. Informationen zum Thema Flucht, Flüchtlinge und Asyl, Frankfurt am Main, Dezember 2014, nach der Issu-Online-Ausgabe S. 5, die Druckversion hat keine Seitenzählung, http://www.proasyl.de/de/home/ausstellung-asyl-ist-menschenrecht/?cHash=988672211081e5b81143ceebddca5682&no_cache=1&sword_list[0]=asyl&sword_list[1]=ist&sword_list[2]=menschenrecht, aufgerufen am 4.8.2015.

Riedelsheimer, Albert (2010): Altersfestsetzung bei Unbegleiteten Minderjährigen; In: Dieckhoff, Petra (2010): Kinderflüchtlinge: Theoretische Grundlagen und berufliches Handeln, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Riedelsheimer, Albert (2010): Clearingverfahren bei Unbegleiteten Minderjährigen; In: Dieckhoff, Petra (2010): Kinderflüchtlinge: Theoretische Grundlagen und berufliches Handeln, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

b.) Internetquellen

www.bagljae.de/downloads/118_anlage-1a-bis-3-final.docx, zuletzt aufgerufen am 02.07.2015

Dipl. Päd. Marie Rössel-Čunović: Kultursensible psychosoziale Beratung und Psychotherapie mit Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten http://www.bdp-hessen.de/backstage2/hes/documentpool/2015/traumafolgenbeifluechtlingenhessptag.pdf, zuletzt aufgerufen am 15.10.2015

Dr. des. Mirja Keller und Dipl. Päd. Sarah Friedrich: Traumabewältigung, Kommunikation und Integration.  Jugendliche mit Flucht- und Migrationsgeschichte im Rahmen von Therapie, Psychosozialer Beratung und Jugendhilfe. http://www.bdp-hessen.de/backstage2/hes/documentpool/2015/lpt2015kellerfriedrich.pdf, zuletzt aufgerufen am 15.10.2015

Geisel, Sieglinde: Geflüchtete versus Asylanten: Begriffe drücken Einstellungen aus. Beitrag vom 10.09.2015, http://www.deutschlandradiokultur.de/gefluechtete-versus-asylanten-begriffe-druecken.1005.de.html?dram%3Aarticle_id=330623, aufgerufen am 15.09.2015

http://www.b-umf.de/images/baglj_handlungsempfehlungen_umf_2014.pdf, zuletzt aufgerufen am 29.06.2015

http://www.b-umf.de/images/auswertung_inobhut2_2013_v2_web.pdf , zuletzt aufgerufen am 29.06.2015

http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Themendossiers/uunbegleitet-minderjaehrige-2014/panel2-hebenstreit.pdf?__blob=publicationFile,  zuletzt aufgerufen am  02.07.2015

http://dejure.org/gesetze/SGB_VIII/42.html, zuletzt aufgerufen am 29.06.2015

http://www.icd-code.de/icd/code/F43.1.html, aufgerufen am 17.10.2015