zanzu.de – Was Sie schon immer über Sex wissen wollten – Roland Wagner

Noch einmal: Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten[ref] Titel eines 1972 gedrehten Films von Woody Allen, der eine satirische Verfilmung des gleichnamigen Sexualkunde-Buches von David Reuben (1969) ist. [/ref]

Donnerstagabend irritierte mich eine Pressemeldung, die inzwischen von zahlreichen deutschsprachigen Medien aufgegriffen wurde: Die Bundesregierung will Geflüchtete über Sex aufklären, mittels einer Website zum Thema.

Es irritiert mich als spätes Kind der (zumindest rhethorisch) recht offenen Generation X (1965-1980) nun so gar nicht, wenn jemand über Sex sprechen will. Dennoch schwankte ich beim Lesen der Meldung und beim Betrachten der Website zwischen Amüsement (Sex kann immer wieder lustig sein!), eben jener genannten Irritation (z.B.: Klar, manche Geflüchtete wurden wesentlich prüder sozialisiert, aber wollen gerade jene dann via Website „aufgeklärt werden“?) und peinlichem Berührtsein.

Letzteres rührt daher, da die Website www.zanzu.de sich so präsentiert, als spreche sie mit einem Kleinkind oder mit einem Alien von einem fremden Stern, welches noch nie gehört hat, was Sex ist. Tatsächlich wird auf der Website erklärt Was ist Sex?, es wird erörtert mit welchen Gründen man Sex haben kann (Liebe, Lust, Geilheit, Kinderwunsch und so; just for info an diejenigen, die es noch nicht wussten (…)) oder was/wie man da so alles machen kann.

Mein erste Frage war: Kommt nur mir das so schräg vor und verstehe ich da einen sinnigen pädagogischen Ansatz nicht?! Meine Kommunkation über das Thema mit anderen aeWorldwide’ler_Innen beruhigte mich dahingehend, dass auch für andere Deutsche (die übrigens schon reichlich Begegnungen mit Geflüchteten hatten) die Webseite und die Berichterstattung dazu äußerst grotesk wirkt:

  • Es wird bei zanzu davon ausgegangen, dass Geflüchtete noch nie von Sex gehört hätten.
  • Es wird so getan, als gäbe es ein westliches Geheimwissen über Sex (der anderswo auf der Welt anscheinend nicht praktiziert wird (…)).
  • Wir oft starren und kalten Deutsche werden zwischen den Zeilen als heiße Liebhaber_Innen verstanden. Absurd! Besonders wenn man gerade außereuropäische Tendenzen bedenkt, die Körper, Leben und Sexualität wesentlich mehr bejahen als Deutschland/Europa: z.B. das indische Tantra, die jüdische Leib- und Materie-Philosophie, die traditionelle muslimische Verehrung der Frau [ref] Vgl. Annemarie Schimmel, ‘Meine Seele ist eine Frau. Das Weibliche im Islam’, München 1996.[/ref], die von dem deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (einer der ersten deutschen Körperbejaher, und das erst im späten 19. Jahrhundert!) so geschätzte Körperbezogenheit der Mauren, die sich z.B. in der Badekultur ausdrückte, während das europäische Mittelalter den Körper gern verdammte [ref] Nietzsche schreibt über das christliche Mittelalter: „Hier wird der Leib verachtet, die Hygiene als Sinnlichkeit abgelehnt; die Kirche wehrt sich gegen die Reinlichkeit ( die christliche Massregel nach Vertreibung der Mauren war die Schliessung der öffentlichen Bäder, von denen Cordova allein 270 besass).” – Zit. nach: Friedrich Nietzsche, ‘Der Antichrist’ (1888), München 1999, S. 188. [/ref] oder freilich heutige lebensfrohe Kulturen (trotz allem!) des Trikonts, man denke nur an den Carnaval doRio de Janeiro.
  • Bemerkenswert ist, dass aber anscheinend kaum ein Pressemedium die Website als so befremdlich em-pfindet wie wir.
  • Auch wenn weitere Kommentare von Seiten der verantwortlichen Bundeszentrale teilweise behaupten, die Website sei vor allem für Flüchtlingshelfer_Innen gedacht, die mit ‘unaufgeklärten Geflüchteten’ zu tun haben, [ref] http://www.derwesten.de/panorama/aufklaerungsseite-zanzu-bricht-unter-verkehr-zusammen-id11641523.html#plx243515114 [/ref] ist unter dem Strich doch zu konstatieren: Geflüchtete werden hier als äußerst naiv und kindlich verstanden, ihnen müsse man die Welt erst einmal erklären.

Der letztere Punkt begegnet uns Ehrenamtlichen von aeWorldwide beim Blick auf andere Veranstalter, Institutionen, die Regierung oder Einzelmeinungen freilich öfter. Gerade dagegen setzt aeWorldwide das Konzept einer Begegnung auf Augenhöhe, das Verständnis einer postkolonialen Perspektive, die alte Muster der Kolonialzeit – der Kolonialherr versus die unterdrückten Kolonisierten in Asien, Afrika oder Lateinamerika – überwindet.

Dieses koloniale Denken findet sich nicht nur bei Philosophen wie Kant, Hegel oder Marx [!], die den Europäer als Norm verstehen. Kant definiert so einen rohen Menschen, den Nicht-Europäer, als unterhalb des Ich-Bewusstseins (Subjektivität), als also nicht moralisch, als noch nicht mit seinem eigenen Philosophiesystem erklärbar, da außerhalb jenem liegend. Dabei ist der rohe Mensch für Kant tatsächlich nur ein Nebenprodukt, denn tatsächlich geht es dem Philosophen keineswegs um eine Emanzipation oder Entwicklung der Menschheit, sondern allein um ein europäisches Kulturprojekt.[ref] Gayatri Chakravorty Spivak, ‘Kritik der postkolonialen Vernunft. Hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart’, Stuttgart 2014, S. 29, S. 36f., S. 47 u. S. 50.] [/ref]

Dieses Kulturprojekt aber ist, so der peruanische Soziologe Aníbal Quijano, Bestandteil einer Kolonialität der Macht, welche sich auf dem kapitalistischen Wertesystem gründet und die kulturelle Unterschiedlichkeit in einem naiven (das Böse ist banal!) Modern vs. Traditionell, Weiß vs. Schwarz, Zivilisation vs. Barberei zu fassen sucht. [ref] Olaf Kaltmeier, ‘Postkoloniale Geschichte(n). Repräsentationen, Temporalitäten und Geopolitiken des Wissens’, S. 203-214; in: Julia Reuter/Alexandra Karentzos, ‘Schlüsselwerke der Postcolonial Studies’, Wiesbaden 2012, S. 208f. [/ref]

Der postkoloniale Ahnherr Frantz Fanon, der auf Jamaika geboren wurde und sich später in afrikanischen Freiheitskämpfen engagierte, schreibt über diese europäische Haltung, die noch dazu gerne als besonders wertvolle europäische Geisteshaltung ausgegeben wird:

„Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen »geistigen Abenteuers« fast die gesamte Menschheit erstickt. Seht, wie es heute zwischen der atomaren und der geistigen Auflösung hin und her schwankt. […] Der Okzident hat ein Abenteuer des Geistes sein wollen. Im Namen des Geistes, des europäischen Geistes, versteht sich, hat Europa seine Verbrechen gerechtfertigt und die Versklavung legitimiert, welcher es vier Fünftel der Menschheit unterworfen hatte. / Ja, der europäische Geist hat merkwürdige Grundlagen. Das europäische Denken ist auf immer ödere und abschüssigere Bahnen geraten. So wurde es ihm zur Gewohnheit, immer weniger auf den Menschen zu stoßen.“[ref] Frantz Fanon, ‘Die Verdammten dieser Erde’ (1961), Frankfurt am Main 2015, S. 263 u. S. 264f. [/ref]

Gegen eben jene Tendenzen will aeWorldwide andere Kontrapunkte setzen, selbst wenn diese Tendenzen allzu oft übermächtig erscheinen – so eben auch auf der Aufklärungsseite zanzu.

Wir haben Respekt davor, wenn Menschen aus anderen Kulturen nicht offen über Sex sprechen. Wir haben auch Respekt davor, wenn umgekehrt jemand die euroamerikanische Emanzipation von Frauen, die angestrebte Gleichberechtigung von Homosexuellen oder sexuellen Minderheiten glaubt, verteidigen zu müssen. Auch wenn es sich dabei nicht unbedingt um eine westliche ‘Errungenschaft’ handelt: zu allen Zeiten schon gab es hin und wieder z.B. matriarchiale Kulturen oder solche, die Homosexualität achteten und zudem hierzulande noch vieles in allen Punkten im Argen liegt). Wir haben auch Respekt davor, wenn jemand über HIV oder andere sexuell übertragbare Krankheiten aufklären will. Wir haben aber kein Verständnis dafür, wenn web-öffentlich impliziert wird, andere Kulturen bedürften zwingend der westlichen Perspektive, einer ‘Erziehung’ durch den Westen. Mit dieser Haltung haben die Kolonialherren Millionen versklavt oder bei einem ‘Unwillen zur Erziehung’ getötet. Jede Kultur hat ihren Wert!

Final: Auch wenn wir mit Geflüchteten jetzt nicht in erster Linie über Sex sprechen wollen, gelte dennoch im übertragenen Sinne das Motto: Let’s Talk about Sex! [ref] So ein Musikhit von 1991, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ydrtF45-y-g. [ref/] 😉 Ein satirischer Umgang mit allzu bemühten Aufklärungsversuchen scheint angemessen, wie bereits der Titel dieses Textes andeutet: Woody Allen konnte sich in seinem Film Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten (1972) über Sexual-Aufklärer einfach nur lustig machen.

Oder was denkt Ihr? Es würde uns wirklich sehr interessieren, was insbesondere Geflüchtete über die Website zanzu.de und deren Ansatz denken!