Die Realität klopft für einen Tag an meine Tür – Selena Freitag

Gestern Abend rief mich meine Schwester aufgeregt an. Ob ich schnell zum Köln/ Bonner Flughafen fahren und jemanden abholen könnte? Ob ich Zeit hätte? Ja, klar. Zwar Samstagabend, aber ich hatte tatsächlich noch nichts vor, hatte mich auf einen gemütlichen Abend zuhause eingestellt. Entspannen und Erholen von der Arbeitswoche.

Der Fotograf, wegen dem sie am Sonntag mit einer Freundin nach Österreich wandern gehen wollte, war überraschend und gerade eben in Deutschland angekommen. Ob ich ihn abholen könnte? Bevor die Polizei da ist!
Ich müsste aber seinen Standort noch bei fb nachschauen. Habe ich dafür noch Zeit? Was ist mit der Polizei? Die kommen gleich, irgendwann und da müsste ich ihn vorher dringend abgeholt haben. Hab ich denn dann noch Zeit nachzuschauen? Ja, schau bitte eben nach. Ok, Laptop an, einloggen. Ok, er scheint mitten im Parkhaus zu stehen. Wie seltsam. Das ist aber ein ungünstiger Ort, oder? Ich überschlage, wo er besser einsteigen könne. Ob er einfach eben rein springen muss? Oder wie sonst? Wie ist denn die Situation da? Versteckt er sich gerade irgendwo? Muss er in Bewegung bleiben? Tausend Fragen und Situationsblitze, schießen durch den Kopf. Sie weiß es auch nicht. Ja, gut, dann schicke ich ihm deine Nummer, dass er dich anruft, wo du ihn genau einsammeln kannst. Ja, ja, mach das, ich zieh mich an und fahre schon mal los. Anziehen? Möglichst normal: blaue Jeans, schwarze Jacke, Mütze, Schal. Los gehts.

Aufgeregt und gespannt fahre ich möglichst schnell, aber ohne die Verkehrsregeln zu missachten. Nicht auffallen.
Ach, ja. meine Schwester. Meide Polizeikontrollen und wenn, dann behaupte, dass du einen Anhalter mitgenommen hättest. Hm, ok. Scheiße, bin ich nervös. Und ich fahre doch so ungern mit einer Leiche im Kofferraum herum, wenn ein Blauwagen neben oder hinter mir auftaucht. Mein übliches Gefühl dabei. Endlich auf der Autobahn. Ich brause durch den leichten Einkaufsrückverkehr. Weihnachtseinkäufer, tzetze.

Ihre Nachricht mit seiner Nummer. Aber kein Anschluss erreichbar. Mist, ich fahre doch…. Sie ruft noch mal an. Ob ich noch Whats app hab? Ja. Ok, er schreibt dich gleich an.
Blödes Whats app, wollte ich doch eigentlich nicht mehr benutzen, aber offenbar hat das einfach internationalen Standart…

Hey, erscheint bei wa. Ah, gut, er erreicht mich. Zurück ein Hi. Er schickt seinen Standort. Noch mal, hatte ich doch bei fb schon gesehen.
Er ruft an.
Hello.
Ah, hello, I will give you a Girl, she kann tell you, wer I am exactly.
Ok.
Das Mädel: Hallo. Ja, hallo. Was möchtest du?
Ich denke nach. Wer ist sie? Ist das ein Code? Hm, unverfänglich antworten: Ich bin auf dem Weg zum Flughafen und möchte dort jemanden abholen. Gut, pass auf, ich erkläre dir, wo du hin musst. Er steht gerade neben mir.
Das ist gut.
Sie lacht. Ja, also, du fährst zum P2, parkst da im Parkhaus einfach und wir stehen am roten Absperrband. Da ist ein Platz abgezäunt, wir stehen an dem roten Band, am Drehkreuz und warten auf dich. Also park erstmal und dann kannst du ihn am Band abholen. Du musst zum Drehkreuz kommen. Ich werde ihm sagen, dass er hier auf dich warten soll.
Ahhh, so viele Infos und schon den Anfang wieder vergessen, scheiß Nervosität. Egal, lieber dumm fragen, als jetzt n Fehler zu machen. Äh, also ich fahre zum Flughafen und dann fahre ich Richtung D2 und dann….
P2, P wie Parkhaus. Ach ja, logisch, ok, also zu P2, parke da und dann?
Dann kommst du zu Fuß zum Drehkreuz.
Wie lange brauchst du noch?
Zehn Minuten, dann bin ich da.
Ok, dann warte ich hier noch mit ihm, bis du da bist. Das ist ja gleich. Ja. Sonst ruf noch mal an.
Ja, ok, bis gleich. Ich lache nervös. Ok, bis gleich.

Abfahrt auf die Flughafenautobahn. Schilder: P1, P2, P3, P4, Depart, Arival…. P2, P2 hat sie gesagt.
Die Straße verläuft in einem Kreis einmal an allen Gates vorbei und führt am Ende wieder genau auf diese Autobahn, das weiß ich. Normalerweise fahre ich immer oben herum und parke in den Parktaschen vor den Eingängen, aber jetzt führt mich die Beschilderung nach unten.
Da, rechts ein Parkplatz, ich schleiche über die Straße. Da sehe ich Licht am Ende des Parkplatzes, rote Absperrbänder, ein Pfadfinderzelt, weiß, lang, ein paar Container, drei Busse, wenige Menschen werfen ihre Schatten unter dem Flutlicht. Ich stehe vor der Schranke zu dem Parkplatz. Hm, sie hat gesagt Parkhaus 2. Das hier ist nicht Parkhaus 2, oder? Aber wenn ich da drauf fahre, komme ich ja auch hin. Ja, aber sie hat gesagt P2. Gut, also folge ich dem lieber und fahre nicht durch diese Schranke. Ich verliere sonst zu viel Zeit. Also weiter. Ich sehe, Parkhaus 2 liegt genau parallel zu dem eingezäunten hellen Bereich. Ok, macht also Sinn. P2 eingefahren, durch die Schranke, ich quetsche mich auf einen nicht ganz rechtmäßig ausgewiesenen Parkplatz direkt im Erdgeschoss und steige aus. Nach links konnte ich nicht fahren, da stehen die Mietwagen hinter einer weiteren Schranke. Ich hätte nur weiter hoch fahren können. Hm, aber Erdgeschoss macht ja eher Sinn. Oder?
Ich laufe innen an der Rückseite des Parkhauses entlang, stelle fest, ok, das hier ist eher Souterrain als Erdgeschoss. Die regulären Ausgänge befinden sich alle auf der vorderen Seite Richtung Terminals, hier hinten ist kein Ausgang. Hm, aber auch keine Mauer, da sind nur so kleine Kniehohe Eisenbügel in den Boden eingelassen, dahinter ein kleiner, sanft ansteigender Hügel, über den ich auf Augenhöhe den Parkplatz von vorhin sehen kann, nur eben von der anderen Seite. Dadrauf ein Absperrband. Ich bleibe stehen. Da sehe ich Menschen, erleuchtet von dem Fluter, stehen neben den Containern, wahrscheinlich Toilettenwagen. Ich betrachte die Leute, gefleckte Armeehose. Hm, Mode oder tatsächlich Armee? Mein erster Impuls: Ich steige über die Absperrbänder, gehe zu den Leuten und frage einfach. Doch nein. Genau das könnte ja falsch sein. Sind das nette Leute? Verletze ich damit unsinnige Vorschriften? Mich beschleicht keine Sorge um mich, sondern um meinen Auftrag. Wenn ich mich nicht wie abgesprochen verhalte, bekomme ich ihn vielleicht nicht mit! Wer war das Mädel eigentlich? Ist das legal, was sie macht? Wissen die anderen Leute davon? Würden sie durch mich davon erfahren, wenn ich mich hier zu auffällig verhalte?

Da registriere ich ein weiteres Absperrband, ca. einen Meter hinter dem ersten auf dem Hügel. Eine Bannmeile?? Ok, so albern das auch aussieht, das hat einen rechtlichen Sinn. Also nein. Möglichst beiläufig schlendere ich zurück in Richtung Auto. Dämlich in nem Parkhaus so hin und her zu rennen. Aber ruhig bleiben, unauffällig.
Was hatte sie gesagt? Park erstmal und komm dann zum Drehkreuz. Drehkreuz?? Sieht hier alles nicht so aus und ich stehe auch zu tief, als dass ich alles überblicken kann. Und der Parkplatz ist auch kein richtiger. Also, folge der Anweisung! Zurück zum Auto, anlassen, eine Etage weiter hoch fahren und richtig ordentlich parken.
Ich laufe noch einmal zehn Meter an der Rückseite des Parkhauses entlang und beobachte. Ok, Überblick ist besser. Ja, das ist eine Bannmeile und der Fluter erleuchtet genau die Mitte des abgesperrten Bereichs, die Toilettencontainer stehen abseitiger, aber näher am Parkhaus. Genau im Lichtkegel des Fluters sehe ich von ferne (sind ca. 50 Meter weit weg) Menschen in einer kleinen Schlange stehen. Menschen mit Rucksäcken. Drum herum gehen gemütlich ein paar Menschen ohne Rucksäcke.
Die stehen da in einer Schlange, die keinen ersichtlichen Anfang hat, nichts wovor die stehen. Aha, die ohne Rucksack-Menschen sind Aufpasser? Oder Helfer? Zumindest bewegen sie sich frei. Die Rucksackmenschen stehen beisammen in einer zweier-Schlange. Wahrscheinlich die Flüchtlinge….

Ich suche den Rand des Absperrbandes ab. Sie sagte, wir stehen am Band. Aber wo??
Ok, dieses ganze Beobachten hilft mir gerade auch nicht weiter. Und wer weiß, wie viel Zeit ich hier schon verplempert habe. Ich muss mich beeilen. Meine Schwester hatte gesagt, bevor die Polizei kommt… Ich versuche anzurufen. Ach scheiße, das ging ja nicht, weil irgendwie ausländische Nummer: The person you have called… blabla. Ok, wieder wa. I am there. I can´t call you back.
Es klingelt. Hallo… hallo.
Hallo, bist du da?
Ja, ich habe geparkt und stehe im Parkhaus, aber ich seh euch nicht. Wo soll ich hin gehen?
Geh mal auf die erste Etage runter.
Ich stehe auf der ersten Etage.
Wir stehen direkt am roten Band.
Ich winke. Ich starre hektisch am Rand auf und ab, versuche auch die dunklen Bereiche zu erfassen. Ah ja, ich sehe dich. Winke zurück und gehe schnell los, weil sie mich zwischen den Autos vielleicht nicht sehen konnte. Zwei Menschen stehen da im ziemlichen Dunkeln. Eine Gestalt winkt, die andere ist Rucksackträger. Ja, ich glaub, ich hab dich auch gesehen. Aufgelegt.
Das Parkhaus ist spärlich erleuchtet, der Fluter mit seinem Lichtkegel schluckt die rundumliegende Dunkelheit. Die zwei Gestalten sind schwarz vor grauem Hintergrund.
Am Rand der Rückseite des Parkhauses (auch hier nur diese Kniehohen Eisenbügel im Boden) stehen scheinbar etwas wahllos kleine Absperrgitter, Wellenbrecher von Festivals. Lächerlich niedrig. Doch die scheinbare Wahllosigkeit hat eine Ordnung. Sie bilden einen mit Fantasie erkennbaren Halbkreis, sind ineinander gehakt. Nur an einer Stelle, Mittig sind zwei nicht ineinander gehakt, sondern mit einer Kette und einem Vorhängeschloss verbunden. Lächerlich, das Vorhängeschloss baumelt auf Knöchelhöhe. Dort bleibe ich stehen und winke. Die zwei Gestalten setzen sich in Bewegung, kommen die wenigen Meter durch eine ‚Gasse‘ von zwei Absperrbändern auf mich zu. Sie lächelt, ca. Mitte/Ende 20, braune Haare zu einem dünnen, glatten Zopf, ungeschminkt, schlank, Hosenbeine, dicke Jacke mit einer dünnen Warnweste darüber, keine besondere, nur einfach blau mit diesen im Dunkeln dezent weißen Streifen, die bei Lichteinfall mega stark reflektieren. Eigentlich wie eine, die ich im Auto hab, nur eben nicht in orange oder gelb, sondern in dezentem Blau. Keine Marken, kein Gebamsel am Hals, nix. Wer ist sie??
Hallo, da bist du ja.
Ja, war nicht so einfach, aber ich bin da, ja.
Und hier ist der junge Mann, den du abholen willst.
Ja, genau, den wollte ich abholen.
Er grinst verlegen. Hey.
Sie reicht mir über das Gitter ihre Hand. Wir schütteln uns die Hände. Wie ein Packt.
Danke, sage ich. Ja, das war ja flott. Du warst ja direkt da. Also alles gut.
Sie bedeutet ihm, über die lächerliche Kette mit dem Vorhängeschloss zu steigen. Danach schüttelt auch er mir die Hand. Wir lachen alle drei etwas nervös.
Ok, sage ich.
Ja, ok, dann macht´s gut.
Ja, tschüss.
Irgendwie habe ich mir, seit meine Schwester angerufen hat, vorgenommen, nur das absolut Notwendigste zu sagen. Das Notwendigste und dabei möglichst unverbindlich oder undeutlich. Verdammt ist das seltsam. Ich hätte am liebsten offen und direkt wie ich bin gefragt: Wer bist denn du? Was hast du für eine Funktion? Ist er jetzt sicher? Muss ich was beachten, aufpassen? Wer sind die anderen Rucksackmenschen? Was passiert mit denen? Was ist das hier überhaupt? Warum hilfst du uns?

Wir gehen zum Auto, Rucksack in den Kofferraum. Müssen den armen Rucksackmenschen mal in der Silhouette enttarnen. Ich brabbel was von Parkticket noch bezahlen in gebrochenem Englisch. Er versteht mich nicht, lächelt nur und sagt ok. Bedankt sich im Auto sitzend. Entschuldigt sich dafür, dass er mich meine Zeit kostet und so. Ich lächle und beteuere, dass das kein Problem ist, dass es echt nicht viel Aufwand war usw.
Ich halte am Kassenautomaten. Überlege kurz. Licht anlassen, ausmachen? Was würde ein Tourist tun? Einfach volle Scheinwerfer an, Motor laufen lassen. Klaro. Ich haspel nach meinem Portemonnaie, erkläre gestikulierend noch einmal, dass ich kurz aussteige, um zu bezahlen. Er kapiert. Ah, du you need Money, I can pay…. No, no, I´ll do it. Stay hier.

Aussteigen, Ticket einschieben. Ganz normal, langsam. Ich bin Tourist, durchatmen. 3€?? Wucher für die paar Minuten, egal, grummeln, aber einfach bezahlen. Zurück im Auto, Richtung Ausfahrt. Ganz normal fahren. Er erzählt, dass überall, in Bulgarien, Türkei, Griechenland, Österreich und was er noch so aufzählt, wo er gewesen ist, die Menschen unfreundlich und zum Teil sehr böse oder genervt sind, bei seinem Anblick. But the germans are allways smiling at me, when I was here. Ich lächle vor mich hin, allerdings zynisch. Das freut mich ja sehr und macht mich auch ein bisschen stolz, wenn die sonst eher nicht für ihre Herzlichkeit berühmten Deutschen, einen guten Eindruck auf ihn gemacht haben und dass es aber bestimmt nur die netteren waren, denen er da begegnet ist, antworte ich sinngemäß. Nervosität ist erstaunlicherweise weg. Ich hab das Gefühl, mein Gold sicher an Bord zu haben und nun einfach unauffällig mich nur an die Verkehrsregeln halten zu müssen, dann läuft´s schon. Ich beginne einen kurzen smaltalk über Parkhäuser in Deutschland. Er radebricht, ich radebreche, Englisch, aber egal, Hauptsache es ist nicht Totenstille. Er will meiner Schwester schreiben, ihr sagen, dass ich ihn gefunden und abgeholt habe. Das klappt aber wieder nicht. Sie hat kein wa. Ich solle ihr schreiben, wenn ich könne. Yes, yes, erstmal fahren, denke ich, ordentlich runter vom Flughafengelände.

Die Straße führt uns auf die obere Ebene. Ohhh, da steht ein Schild nach unten zu einer Polizeistation. Äh, neee, wir fahren lieber oben rum, an den Touristeneingängen vorbei, auch wenn ich dann noch einmal komplett durch den Kreis rum muss. Egal, langsam, ein paar Drempels, keine Menschen, nur noch drei weitere Autos. Seltsam leer, dabei ist es doch erst acht Uhr abends. Zwei blaugekleidete Beamte schlendern über den Bürgersteig. Ich registriere sie nur aus den Augenwinkeln, während ich denke. Gut, dass er so harmlos jung aussieht, wie ein etwas schlumpeliger Student. Total normal eigentlich. Endlich aus den Lichtern raus, auf die Autobahn, hinein ins Dunkle der normalen Straße.

In meiner Wohnung angekommen bleibt er im Flur, direkt hinter der Wohnungstür stehen. Sagt was von I musst wash my feet. Er zieht sich Schuhe und Socken aus. Irritiert schaue ich auf seine nicht dreckig aussehenden Füße. Meine waren nach einer Woche Con schwarz! Ok, denke ich, ja, klar, wenn er möchte. Yes, you can also have a shower, if you want.
Ich lege ihm ein Handtuch raus, zeige ihm mein Arbeitszimmer und bedeute ihm, seinen Rucksack dort rein zu stellen.
It is dirty, er deutet auf den Rucksack in seiner Hand.
Dirty?, denk ich. Naja, bisschen staubig. Schaue ihn verständnislos an.
Dirty, you know?, lächelt er nervös.
Nee, ich know nicht, was er mir da sagen will. Verseucht? Parasiten? Was denn?
Ich winke ab und er stellt den Rucksack schulterzuckend auf den Boden, genau dorthin, wo ich hin zeige.
Während er duscht, denke ich weiter. Wollte er überhaupt duschen? Denkt er, er müsse duschen, weil ich das gesagt habe? Ach egal, Duschen, Essen, Schlafen sind die Grundbedürfnisse nach einer Reise.
Gutmeinend schaufele ich ihm seinen Teller voll. Und schon tut es mir wieder leid. Ich beteure You have not to eat all, if you don´t want to. Gestikuliere zum Kühlschrank You could eat it later or so….
No, no, its good. thanks so much.

Während des Essens stellen wir fest, dass wir beide ziemlich schlecht Englisch sprechen, entschuldigen uns dafür gegenseitig. Smaltalk ist noch schwieriger. Man kramt nach einem Wort, um etwas auszudrücken und dann, wenn man es endlich aus der Schublade gezogen hat, versteht der andere es nicht. Sehr hemmend, gerade was Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Wertschätzung angeht, dazu noch ungewohnte Verhaltensnormen, für die man sich laufend entschuldigen möchte. Wir benutzen Hände, umschreiben Dinge und irgendwie versteht man sich. Ich will ihm Ungezwungenheit, Freiraum und sich Fallenlassen-können signalisieren, er möchte sich für die Wohltaten revanchieren, bedankt sich ständig, auch immer wieder für meine Zeit, will abwaschen, aber ich hab doch eine Spülmaschine, außerdem mache ich nie den Abwasch direkt nach dem Essen. Ob ich bei irgendwas Hilfe bräuchte, er wäre soo dankbar, ich sollte doch sagen, wenn er was tun könne. Ja, total gerne, aber ich brauche gerade weder Holz gehakt, noch müssen Umzugskisten geschleppt werden, ich hab einfach nix zu tun für dich.
Nachdem er mit seiner Familie telefoniert hatte, hab ich ihm einfach einen heißen Tee gebracht und gesagt, dass er den wegen seinem Husten trinken soll. Ich hab lieber nicht gefragt, ob er den überhaupt haben will. Konnte ihn ja stehen lassen. Das klappte dann gut, er konnte den annehmen, weil er ja nunmal fertig war, und danach seine Tasse auswaschen gehen. Vielleicht hat meine in dem Fall bestimmende Art ihn auch dazu bewogen, das einfach dankend anzunehmen. Kurz danach sah ich, dass er sein Licht ausgemacht hatte. Zwölf Uhr. Eine halbe Stunde später löschte auch ich mein Licht.
Ach ja, aufgegessen hatte er zum Glück nicht, es war echt zu gut gemeint und hatte mich während des Essens regelrecht beunruhigt, dass er womöglich versucht, das aufzuessen, mir zu liebe, aus Höflichkeit, ich hätte mich noch schlechter gefühlt, wenn er sich überfressen und dann womöglich noch Bauchschmerzen bekommen hätte.
In der Nacht kamen meine Schwester und eine Mitarbeiterin ihres Flüchtlingsprojektes vorbei. Wir ließen ihn schlafen und die zwei legten sich auch bald schlafen, nachdem ich ihnen kurz vom Verlauf der Aktion berichtet hatte.

Am folgenden Tag verbrachten wir noch einige Stunden in meiner Wohnung, bis die zwei es für sicher genug hielten, mit ihm nach Frankfurt zu fahren, ohne in eine mögliche Polizeikontrolle zu geraten.
Ich bat ihn, mir ein paar seiner Fotos zu zeigen. Er hatte viele Aufnahmen vom Kriegsgebiet in Syrien gemacht, vornehmlich aus den nördlichen Gebieten. Er war den Soldaten der einen und auch der anderen Fraktion gefolgt, hatte auch ein Lager bewohnt und viele Bilder von seiner zerbombten Stadt gemacht, häufig direkt nach einem Bombenangriff. Verzweifelte Menschen, ungläubig trauernd über Verluste, Ruinen, rauchende Schuttberge, aber auch Alltag und Gewohnheit zwischen der Zerstörung, Soldaten und Freiheitskämpfer kriechend, schießend, zielend und Zerstörung verbreitend. Tod, Verletzung, sichtbare Auswirkungen, dazwischen im Chaos spielende Kinder, lachende Menschen, bevor der Tod sie traf. Dazu erzählte er uns viele Geschichten und Hintergründe von den abgebildeten Menschen, Bekannte, Freunde, Geschichten, die er erzählt bekommen hatte.
Es berührte mich sehr. Ich konnte das zunächst nicht für mich ausdrücken, was mich so berührte. Sicherlich, erstmal die direkte Präsens, zu wissen, dass der Mensch neben dir sitzend, auch neben den Schauplätzen, mittendrin gestanden hatte, dass es sich nicht um ferne Gestalten aus Zeitungen handelt, sondern Menschen mit einer Geschichte, einer direkt wahrnehmbaren Lebenspräsenz, aber es war noch mehr. Erst später wurde mir klar, dass mich meine Art der Wahrnehmung irritiert hatte, dass ich immer wieder Bilder einnorden musste, mir immer wieder rein vom Intellekt her klar machen musste, dass dies dort keine Inszenierung, keine Filmdarstellung, kein Fake-Blut ist, dass das Gewehr gerade auf ein Leben zielt und es bedroht, dass die Rauchwolke eine Auslöschung mehrerer Leben bedeutet. Denn, das fiel mir seltsam auf, die Bilder an sich, sagen gar nichts darüber aus, ob es sich um Realität oder Inszenierung handelt, das allein musste ich geistig hinzufügen, dem Erzähler neben mir glauben und diesen Glaube als Wissen integrieren und in diesem Prozess empfand ich die Realität, wahnsinnig, mörderisch, unaushaltbar, unverarbeitbar, reines Überleben, völlig abstrus und brutal abstoßend.

Nachdem die drei am Nachmittag gefahren waren, musste ich mich wieder langsam auf die Wirklichkeit meines Lebens, meines Alltags einstellen und mich demgegenüber banal erscheinenden Montag in meinem Job zuwenden. Ein kurzes Bzzz, eine kurze, intensive Überschneidung von meinem Leben und einem völlig anderen. Und das verändert, wirkt in einem fort, bei dem einen länger, bei dem anderen weniger gravierend. Denn für ihn war das sicherlich eine kurze, nette Station auf seinem Weg von hunderten Kontakten, für mich war es ein massiver Tag Realität der Welt.